Vor Jahren erwartete ich einen Freund zum Kaffeetrinken. Er klingelte, betrat die Wohnung und blieb unter der Wohnzimmertür wie angewurzelt stehen. Er starrte in die Zimmerecke und fragte mit zusammengekniffenen Augen: „Bist Du etwa ein Griot?“ „Häh?“, war meine überraschte Gegenfrage. „Die Trommeln da“, sagte er und zeigte auf meine beiden Trommeln an der Wand. „Bist Du ein Griot?“ „Nein“, lachte ich, noch immer etwas verdattert, „ich spiele ab und zu zum Spaß!“ „Wie, einfach so?“ „Ja.“
Sein Unverständnis hatte mich damals so verblüfft, dass ich, als er weg war, erst einmal recherchierte, was ein Griot ist. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass mein Besucher aus dem Senegal war. Er war kein Griot, er war „ein Nobler“. Noble spielen keine Trommeln und pflegen keinen intensiveren Umgang mit Griots. Das war offensichtlich.
Das Ganze ist etwa 25 Jahre her. In der Zwischenzeit war ich mehrere Male in Westafrika unterwegs und habe auch „echte“ Griots getroffen. Wer Senegal oder andere westafrikanische Länder bereist, wird ihnen bei jedem größeren Fest begegnen. Bei Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, Firmeneinweihungen, politischen Veranstaltungen, Dorffesten. Sie trommeln, singen und tanzen, rezitieren Lobgesänge auf die Veranstalter und lobpreisen die Vornehmheit und die Schönheit der wohlhabenderen Gäste. Ihr Honorar kommt zum Teil von den Veranstaltern, zu einem großen Teil von den Gästen. Wer einmal dabei war, weiß, dass diese sich nicht lumpen lassen. Man zeigt, was man hat. Die Spender kommen einzeln auf die Bühne und stecken dem Sänger oder der Sängerin deutlich sichtbar reichlich Geld und Gold zu.
„Wenn in Afrika ein Griot stirbt, ist das so, als wenn eine Bibliothek niederbrennt.“
Dies ist ein auch in der westlichen Welt bekannt gewordenes Zitat von Hampaté Ba, einem bekannten Schriftsteller aus Mali. Griots sind Sänger, Dichter, Geschichtenerzähler, Entertainer. Mit ihren Balladen, Gesängen und Tänzen geben sie traditionelles Wissen und geschichtliche Kenntnisse weiter. Sie kennen die Mythologie ihres Landes und verstehen den Umgang mit Ironie und Satire. Ähnlich wie früher in Europa die Troubadoure loben sie die Mächtigen, unterhalten und klagen schlechte Gewohnheiten an. Viele westafrikanische Musiker, Dichter, Schauspieler, Filmemacher oder TV-Moderatoren stammen aus Griot-Familien.
Erstaunlich ist, dass Griots im Hinblick auf Geschichte, Kultur und Tradition die gebildetste Schicht sind – und das geringste soziale Ansehen haben. Als Griot wird man geboren. Griots sind eine eigene Kaste oder Klasse und ihr Beruf, ihre Aufgaben, ihre Kenntnisse werden innerhalb der Familien weitergegeben.
Moderne Griots
Heute verändert sich die Rolle der Griots. In Afrika werden aus Oral-Kulturen zunehmend Schriftkulturen und die digitale Welt hält auch in traditionellen Kulturen Einzug. Bibliotheken gibt es zwar bis heute nur wenige in Westafrika, dafür aber reichlich Internetanschlüsse. Viele Geschichten, Balladen und Songs haben in modernen Pop-Songs, Gedichten und Romanen ihren Niederschlag gefunden. Auch gibt es immer mehr Nicht-Griots, die Musik und Filme machen, Poesie, Geschichten und Bücher schreiben. Und so manche typischen Griot-Vortragsarten wie z.B. der staccato-artig vorgetragene Sprechgesang findet sich bei uns in modernen Formen wie Rap oder Poetry-Slam wieder.
Wer Griots sucht, muss nicht bis nach Afrika reisen. Viele Griots leben heute in Frankreich und auch in Deutschland. Sie geben Konzerte und unterrichten Musik- und Rhythmus-Interessierte im Trommeln und Tanzen.
Das weibliche Gegenstück zum Griot ist eine Griotte. Und damit bin ich beim Anfang und bei der Überschrift meines Artikels. Denn als ich vor kurzem einmal wieder über das Wort und die Methode des Storytellings nachdachte, fiel mir diese alte Geschichte ein. Angesichts all der Berichte und Geschichten, die ich im Auftrag von Unternehmen und Verbänden schreibe, hatte mein Besucher von damals wahrscheinlich sogar Recht mit seiner Frage: „Bist Du ein Griot?“.
Okay, meine Trommeln dienen heute hauptsächlich als Blumenständer. Trommeln tue ich heute vor allem mit Worten. Texte schreiben, Neues und Altes verbinden, auf Besonderheiten hinweisen, triviale und komplexe Dinge spannend machen, Geschichten erzählen: Das ist in der Tat meine Welt. Aus heutiger Sicht müsste ich sagen: „Ja, ich bin eine Griotte!“